Herr Raue, was sind Sie eigentlich? Ein TV-Star, der gut kochen kann? Oder ein Sterne-Koch, der TV-Formate besser macht?

Ich bin einfach ein mit sich glücklicher Mensch. Ich mache das, was mir am meisten Spaß macht und ich habe das unglaubliche Glück, dass ich meine Passion gefunden hat – und das ist das Kochen. Alles, was ich mache, dreht sich ums Kochen. Ich bin jemand, der viele Interessen hat und der sehr dynamisch denkt. Für mich ist es irrelevant, ob das Kochen nun hinterm Herd oder sonst irgendwo stattfindet, ob der Herd auf einem Kreuzfahrtschiff steht oder in einer Premium-Seniorenresidenz oder im TV – das Thema ist immer das Kochen.

Wie bringen Sie neun Restaurants, TV-Shows, Gastro-Beratungen und Koch-Events unter einen Hut?

Mein Leben ist nicht dadurch geprägt, dass ich mit Freunden ins Kino gehe. Ich verbringe meine Freizeit nicht beim Klettern oder Fahrrad fahren. Ich definiere mich durch meine Arbeit und die mache ich extrem gerne.

Sternekoch Tim Raue und seine zweite Ehefrau Katharina.
Sternekoch Tim Raue und seine zweite Ehefrau Katharina. | Bild: Jörg Carstensen

Was bedeutet kochen für Sie?

Kochen ist der Ausdruck meiner Persönlichkeit. Ein Künstler drückt sich über seine Arbeit aus – das das tut ein Koch auch. Ein Koch ist auch Handwerker. Ein Part unserer Arbeit ist das Filetieren eines Fisches und den dann auf den Punkt zu garen. Der andere Part, und da kommt nun das Kreative, ist es, daraus ein Gericht zu kreieren und neue Aromenwelten zu schaffen. Aromen, die den Gaumen einhüllen. Man darf allerdings nie vergessen, dass Kochen nur eine temporäre Kreation ist. Alles, was wir schaffen, überlebt auf dem Teller nur wenige Minuten. Kochen ist ein extrem sozialer Beruf: Alles, was wir machen, machen wir, um andere Menschen glücklich zu machen.

Machen Sie sich durch das Kochen nicht ebenfalls glücklich?

Ja, selbst werde ich auch glücklich. In dem Moment, wo ich das Gericht kreiert habe, mache ich einen Haken dahinter und kontrolliere es immer wieder. Ich gehe nicht raus und frage alle, wie es ihnen gefällt. Sondern es geht darum, dass ich damit glücklich bin. Dann ist man davor gefeit, den Claqueuren da draußen Glauben zu schenken, die sagen, das ist das beste Essen der Welt oder das ist das schlechteste Essen der Welt.

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Sie schwanken im Fernsehen zwischen sprachlich hochgestochenen Gourmet-Beurteilungen bei „The Taste“ oder „Herr Raue reist!“ und fluchendem Gossenjargon bei „Kitchen Impossible“. Was kommt dem Umgangston in Ihren Küchen am nächsten?

Ich habe dieses sehr extreme Leben in der Küche eine sehr, sehr lange Zeit gelebt. Heute kann ich sagen: Das ist nicht gesund und nicht intelligent. Seit ein paar Jahren sorge ich dafür, dass Klima und Miteinander ruhiger sind. Es ist auf ein balanciertes Miteinander ausgerichtet und nicht auf eine Ansammlung von Irren, die sich von einer Höhe zu nächsten hangeln und immer nur auf Adrenalin arbeiten. Denn das funktioniert nicht.

Tim Raue als Juror in der Sat1-Show „The Taste“.
Tim Raue als Juror in der Sat1-Show „The Taste“. | Bild: SAT.1/Jens Hartmann

Ich habe gelernt, dass Kontinuität nur durch Konstanz funktioniert. Konstanz bedeutet, Menschen einzustellen, die balanciert sind und in der Lage, die Arbeit konstant auszuüben. Ich war jahrzehntelang Himmel hoch jauchzend oder zu Tode betrübt – dazwischen war wenig. Das hat sich glücklicherweise verändert. Dafür musste ich viel tun, viel lernen, viele Therapien machen. Aber dankenswerterweise war ich offen und selbstkritisch. Ich bin immer noch weit davon entfernt, perfekt zu sein. Aber ich bin wenigstens kein Arschloch mehr.

Ihr Restaurant „Tim Raue“ in Berlin steht in der Liste „The World‘s 50 Best Restaurants“ auf Platz 26. Wie real ist das?

In den letzten Jahren bin ich immer dankbarer dafür und kann es auch so langsam annehmen. Im Juni ist die nächste Vergabe der Platzierungen. Ich habe 2022 nicht mehr damit gerechnet, dabei zu sein – und dann sind wir von 31 auf 26 geklettert. Wir werden es nie auf Nummer eins schaffen. Das liegt daran, dass Deutschland zu doof ist, sich eine richtig gute Lobby zu schaffen. Aber das ist wurscht – allein, unter den 50 besten zu sein, ist schon surreal. Wenn ich morgens aufwache, eine Mail schreibe und in der Signatur sehe, dass wir das 26. beste Restaurant der Welt sind – dann realisiere ich das und denke: Lecko mio, Raue, du kleiner Scheißer, du hast es so weit gebracht! Glücklicherweise bleibt das nicht lange.

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Wer hat Ihnen die richtige Einstellung mit auf den Weg gegeben?

Ich bin froh, dass meine Großeltern mich immer Demut gelehrt haben. Als Gastronom braucht man diese Demut, indem man immer einen Schritt zurückgeht und sich klar sein muss, dass man dafür da ist, anderen Menschen einen wunderschönen Mittag oder Abend zu bescheren. Heute ist es genau so wichtig, dass sich alle Mitarbeiter wohlfühlen. Das hat mir die Möglichkeit gegeben, diese Menschen zu motivieren, in meinen anderen Restaurants zu arbeiten und die dann auch zu führen. Ich kann sehr gut einschätzen, was ich kann und was ich nicht kann: Ich kann delegieren, habe Vertrauen zu anderen Menschen und nicht die Überzeugung, alles selber machen zu müssen.

Wo steht die deutsche Küche im internationalen Vergleich?

Wir sind absolute Weltklasse. Vier Berliner Restaurants finden sich unter den 100 besten der Welt beziehungsweise haben hier eine Sonderauszeichnung. Im weltweiten Ranking des Guide Michelin sind wir auf Platz vier – nur Frankreich, Japan und Italien sind vor uns. Das zeigt, wie großartig das Handwerkerland Deutschland performt. Auf der anderen Seite zeigt es auch, dass ein Wandel stattgefunden hat, dass gute Restaurants nicht mehr nur Fine-Dining-Tempel sind, sondern Orte, in denen man sehr, sehr gut isst, aber in denen die Schwellenängste mit Anzug und Krawatte und hohen Preisen tatsächlich nicht mehr real sind.

Zeigt sich dieser Wandel bei jungen Menschen, die gegen Klimawandel oder Tierausbeutung auf die Straße gehen?

Junge Menschen werden aus den unterschiedlichsten Gründen immer gerne angefeindet. Einer davon ist, dass immer mehr von ihnen vegan sind. Das heißt doch aber auch, dass sie viel sensibilisierter sind, was ihre Ernährung angeht. Die sind mit den Supermarkt-Regalen groß geworden, die auf 15 Metern Fleisch- und Wurstzubereitungen präsentieren und bei denen es nicht darum geht, das verarbeitete Tier zu respektieren, sondern nur um Konsum, Konsum, Konsum – und genau darauf hat die junge Generation keinen Bock mehr.

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Sie gelten als harter Hund und als Perfektionist in der Küche. Stimmt das?

Das, was wir machen, ist pure Leidenschaft, keine Arbeit. Ich übe meine Arbeit aus wie Hochleistungssportler, die kämpfen, kratzen, beißen, um zu gewinnen – und das mache ich auch: jeden Mittagsservice, jeden Abendservice, bei jedem Event, bei jeder Sendung. So bin ich. Das kann unerträglich sein für die anderen, weil ich eben nie aufgebe, weil ich nie Letzter sein möchte. Vielen reicht es, wenn das Leben gut ist. Ich habe erlebt, wie scheiße das Leben sein kann – und das will ich nie wieder und deswegen arbeite ich so hart.

Wie schaffen Sie es, authentisch zu bleiben?

Das Leben hat mir schon genug Klatschen verpasst, auch völlig zurecht. Ich war vor allen in jungen Jahren nicht davor gefeit, mich selbst für geil zu halten. Aber dann kommt jemand um die Ecke, der dir schnell zeigt, wie geil du wirklich bist. Im Restaurant wirst du ja nicht nur einmal im Jahr vom „Guide Michelin“ besucht oder vom „Gault&Millau“ oder von „The 50 Best“. Jeder Gast, der da draußen sitzt, ist mittlerweile Tester. Jeder von denen kann sich auf Goggle oder Tripadvisor austoben. Du musst das Bewusstsein haben, dass du nicht nur für den einen oder anderen gut kochst. Nein, jeder, wirklich jeder verfickte Teller muss perfekt sein.